Hannover – 1.11.2019 Ein Pass oder eine Geburtsurkunde?

Durch einen Besuch vor Ort darf ich heute die Teilnehmenden des Projektes New Identity kennenlernen. Es regnet und ist ein nass-kalter Tag in Hannover, und als ich um 15 h eintreffe, habe ich noch eine gute Stunde mit Elke. Wir sitzen in dem Kellerbüro der Kunstschule und trinken Tee. Elke gibt mir einen einen kurzen Überblick, was in den vergangenen Wochen passiert ist. Die Gruppe besteht aus jungen Frauen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Es gab bei einer Person abiturbedingt ein Ausscheiden.

In der Entwicklung der künstlerischen Auseinandersetzung mit Identitäten haben sich vielfältige Konzepte und Methoden entwickelt. Jede arbeitet im Moment an einer anderen Übersetzung ihres Verständnisses. Aber das darf ich ja ab 16 h selber beobachten. Heute geht es neben den eigenen Projekten darum, sich für eine Aktion im Landtag vorzubereiten. Am 21.11. wird die Gruppe die Niedersächsischen Politiker*innen mittels einer künstlerischen Aktion in einen Dialog zu Identitäten einladen. Die Basis für diesen Dialog bildet die Spiel, sich eine neue Identität zu erwürfeln, d.h. mit dem Prinzip Zufall. Elke stellt mir den aktuellen graphischen und inhaltlichen Entwurf dieses Dokuments vor, dass jede*R Politiker*innen erhalten soll und über das die Gruppe heute gemeinsam entscheiden wird. Wir sprechen über einige der im Moment aufgeführten Kategorien, mit denen die Politiker*innen konfrontiert werden sollen. Ich möchte hier auf 3 der 7 Kategorien eingehen: Nationalität, Krankheit sowie sexuelle Orientierung.

Identitätsmerkmal Nationalität

Elke erzählt wie erstaunlich sie aus Erwachsenensicht findet, welche Identitätsmerkmale die jungen Frauen nicht als wichtig erachten und wie sich ihrer Meinung nach Identitätsideen merklich verschoben haben. Will heißen: Farbig sein ist kein Kriterium, sondern der kulturelle Hintergrund des Farbigsein, d.h. es macht einen Unterschied ob jemand mit einer Erfahrung als Farbige aus Togo, USA oder Holland kommt. Laut Elkes Wahrnehmung hat das etwas mit der Realität dieser Generation zu tun, die zum einen in bi-nationalen Regenbogen- und Patchwork-Familien aufwachsen und zum anderen aber auch Schulklassen eine große Vielfalt an Zuwanderungserfahrungen erleben. Für diese Generation sei dies eine normale Erfahrung. Ich kann das aufgrund meines Umfeldes sofort bestätigen, sowohl in meinem Berliner Umfeld als auch in meinem weniger urbanen, ursprungs-familiären Umfeld. Auch in meinem internationalen Freund*innenkreis kann ich diese heterogenen Zuwanderungserfahrungen wahrnehmen.

Ich lese das zuhause nochmal nach. „In Deutschland leben 81,2 Millionen Menschen. Von ihnen sind 16,4 Millionen zugewandert – oder haben Eltern, die aus dem Ausland kommen. Das ist mehr als jede fünfte Person.“1

Ich finde es sogar noch genauer: „In Deutschland hat rund jede vierte Person einen Migrationshintergrund – in Westdeutschland galt dies im Jahr 2018 für 28,6 Prozent und in Ostdeutschland für 8,0 Prozent der Bevölkerung. …. Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen: 2018 hatten 40,6 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund.“2

In Berlin geht man mittlerweile mit der Terminologie „Migrationshintergrund“ sensibler um. „Beim Indikator „Zuwanderungserfahrung“ handelt es sich in erster Linie um die z.T. ungenauen Zuweisungen, die bislang beim Amt für Statistik Berlin-Brandenburg unter den Begriff „Migrationshintergrund“ firmierten. Da dieser Begriff insbesondere in den Medien oft mit einem negativen Beiklang verwendet wird, wurde im Bezirksamt Mitte entschieden, auf die Verwendung dieser Terminologie zu verzichten. … stattdessen wird „Menschen mit Zuwanderungserfahrung“ verwendet, auch wenn dies sich bisweilen nicht auf die einzelnen Personen, z.B. bei Kindern und Jugendlichen, sondern auf die Familie bezieht.“ Und „Neben den in der amtlichen Statistik als Ausländer*innen aufgeführten Menschen, gibt es ebenfalls eine relativ große Gruppe von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die gleichzeitig entweder selbst oder in der Elterngeneration eine Zuwanderungserfahrung aufweisen. Diese Gruppe schließt Spätaussiedler*innen, Eingebürgerte und insbesondere jüngere Kinder nichtdeutscher Eltern ein.“3

Was ich da nachlese – nachdem ich von Elke höre – wie normal diese Generation diese Durchmischung empfindet, ist das Ergebnis von einerseits durchlässigeren (europäischen) Vereinbarungen, generell einem hohem Mobilitätsverhalten aufgrund von vermehrten Möglichkeiten, aber eben auch Krieg, Flucht und Vertreibung aufgrund von klimatischen und wirtschaftlichen Engpässen. Auch ist das Phänomen in Deutschland messbar neueren Ursprungs „in der Gruppe der 40- bis unter 45-Jährigen lag der entsprechende Anteil [der Personen mit Migrationshintergrund] 2018 bei 34,2 Prozent und bei den 80- bis unter 85-Jährigen bei 8,6 Prozent.“4 Bei letzterer Zahl finde ich interessant, dass die Anzahl der innerdeutschen Fluchterfahrenen in und nach dem 2. Weltkrieg scheinbar nicht zählt als Migrations- oder Zuwanderungserfahrung, heutzutage aber Aussiedler- bzw. Spätaussiedler*innen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wie Kasachstan und Russland, sowie Polen und Rumänien durchaus aufgeführt werden.

Wir stellen also fest, im Niedersächsischen Landtag wird diese Gruppe junger Aktiver auf eine Gruppe von Menschen mit weniger Zuwanderungserfahrungen treffen.

Identitätsmerkmal Sexuelle Identitäten

Ich schreibe mit einem Selbstverständnis am Anfang dieses Textes über Frauen, die an diesem Projekt teilnehmen und muss mich doch sofort korrigieren, nur weiß ich nicht genau, wie. In der Identitätskategorie „Sex“ gibt es nicht Mann oder Frau als Kategorie, sondern pan-, trans-, bi, a-, homo- oder hetero-sexuell zu sein.

Die Identitätskategorie spricht nach meinem Verständnis über Paarungsverhalten und befragt ebenfalls Formen des Zusammenlebens. Verstehe ich richtig, dass diese Gruppe vielleicht stellvertretend für ihre Generation die normierte Dominanzkultur der Mehrheitsgesellschaft zur Diskussion stellt? Ich bin gespannt, wie die Generation Politiker*innen mit diesen Zuschreibungen umgeht, ob sie neugierig darauf sind, was sich6 für Diskussionen ergeben könnten.

Identitätsmerkmal Krankheit

Ich führe während der zwei Stunden, in der alle an ihren Identitätsübersetzungen arbeiten, ein Gespräch mit einer Teilnehmenden zu dem Merkmal der Krankheits- oder Gesundheitszustand der gewürfelten Identität. Viele der von den jungen Teilnehmenden gewürfelten Identitäten haben eine physische oder psychische Erkrankung. In dem Faktenkatalog für die Politiker*innen kann der/die Spieler*in sich bis zu 6 Möglichkeiten erwürfeln, von der nur eine „gesund“ ist. Wie geht man mit dem Faktor Gesundheit um, die in diesem neo-liberalen Wirtschaftssystem ja Kennzeichen für Potenz, Leistung, Kraft und damit auch Attraktivität geworden sind? Damit ist Gesundheit zu etwas Moralischem geworden: „Mehr als elf Millionen Deutsche schwitzen regelmäßig in Fitness-Studios. Was als die neue Lust am Gesundsein daher kommt, sieht der Historiker Jürgen Martschukat als Trend einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Leistung sich offenbar lohnt.“ Martschukat: „Wir leben in einer Gesellschaft oder auch in einer Zeit oder einem Zeitalter, das Individualität und Autonomie so hoch schätzt wie vielleicht noch nie zuvor. Wenn wir in dieser Gesellschaft erfolgreich sein wollen, dann verlangt das Selbstverantwortung, also selbstverantwortliches Handeln, damit wir diesen Anforderungen gerecht werden können. Da sind Fragen der Prävention sehr wichtig und alle möglichen Verhaltensweisen, die vor allem auf den Körper gerichtet sind, weil der auf eine gewisse Art und Weise unser höchstes Gut ist. Diesen Körper zu pflegen und leistungsfähig zu machen oder auch leistungsfähig zu erhalten, weil Fitness nichts ist, was bleibt. Die ist immer direkt wieder weg, wenn man sich nicht drum kümmert, das ist eine ganz wichtige Anforderung dieser Gesellschaft.“ 5

Das ist die eine Seite. Gegenüber dem steigenden Fitness-Bewusstsein in Deutschland hat sich die individuelle krankheitsbedingte Ausfallzeit von Arbeitnehmer*innen in den letzten Jahren spürbar erhöht. „Innerhalb der BKK war ein Versicherter im Jahr 2016 durchschnittlich 1,34 Mal für insgesamt 17,4 Tage krankgeschrieben.“6

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) bestätigt ferner: „Bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Zu den häufigsten Krankheitsbildern zählen Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch. Für die knapp 18 Millionen Betroffenen und ihre Angehörigen ist eine psychische Erkrankung mit massivem Leid verbunden und führt oft zu schwerwiegenden Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben. 

Hinzu kommen erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen: Psychische Erkrankungen sind nicht nur die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage im Beruf, sie sind auch der häufigste Grund für Frühverrentungen. Es wird erwartet, dass die direkten und indirekten Kosten, die dadurch entstehen, in Zukunft noch weiter ansteigen werden.“7

Das Spiel, dass sie getraut, Identitäten deutlich mit Krankheiten zu belegen, liegt also nicht unbedingt aus der realen Norm.

Warum hat das in diesem New Identity Projekt Relevanz?

Ich stelle fest, alle Faktoren aller Kategorien, die erwürfelt werden können, handeln von Differenzerfahrungen, d.h. manche Menschen werden mit mehr Chancen, an gesellschaftlichen Ressourcen teilzuhaben, ausstattet als andere. Die Politik des Körpers spielt dabei eine große Rolle, Alter, Herkunft, Krankheiten, sexuelle Identität, …. Manche Menschen können aufgrund ihrer über den Körper präsentierten Identität deutlicher oder besser an Gesellschaft teilhaben als andere. Der Körper ist politisch, weil er dazu beiträgt, Gesellschaften zu ordnen und über Ein- und Ausschluss mit zu entscheiden.

Das Spiel der Identitäten spricht „Bio-Politik“ an, ein Begriff aus dem Kontext des französischen Philosophen Michel Foucault. „Der sagt, dass über die Körper auch regiert wird oder an den Körpern regiert wird, dass Macht ausgeübt wird, und zwar Macht, die sich durchaus auch im Rücken des Subjekts ereignet, also nicht im physischen Rücken, sondern sich im unentdeckten Ausführen von Handlungen und dem Befolgen von Normen zeigt.“8

Lost und Verwirrung

Ich freue mich darauf, am 21.11. den Tag mit der Gruppe vor Ort zu verbringen. Das eine wird sein, beobachten zu dürfen, welche Art von Interaktionen es geben wird. Das andere ist die Freude, die Fragen zu stellen, die ich ihnen aufgrund der Kürze der Zeit am 1.11. nicht gestellt habe. Da wären Fragen wie:

  1. Wie steht ihr zu dieser Aktion im Landtag zu machen?
  2. Wie habt ihr diese Kategorien entwickelt? Warum diese und keine anderen Kategorien? Was scheint euch daran wichtig?
  3. Was wünscht ihr euch, was das bewegen und bewirken soll in der Haltung von Politiker*innen oder generell Erwachsenen dieser Generation?

Ich merke, wie ich selber konfrontiert bin schnell meine eigenen Interpretationen und Verständnisse über das Angesprochene zu legen, anstatt zu fragen, was genau gemeint ist und auch genauer zu fragen, was mit bestimmten Begriffen gemeint ist. Aus phänomenologischer Perspektive bin ich damit konfrontiert, dass meine eigene Wahrnehmung aufgrund von Alter, Erfahrung, Hautfarbe und Geschlecht etc. hier nicht zielführend ist, um wirklich zu erfahren, was diese Generation erlebt und wahrnimmt. Will ich stellvertretend und als Projektforschende verstehen, muss ich meine Perspektive suspendieren und mich der Verwirrung und Unsicherheit stellen, die diese Identitätsauseinandersetzung auch in mir auslöst, denn auch ich definiere mich ja über eine kulturell konstruierte Identität.

Ob und wie eine Begegnung mit Politiker*innen stattfinden kann, die täglich erleben, wie Menschen an sie herantreten, um ein/ihr Anliegen nahezubringen und die sich ja professionell dazu verhalten (gemäßigtes Agieren), darauf bin ich gespannt.

1https://www.tatsachen-ueber-deutschland.de/de/jugend/offene-gesellschaft/offen-fuer-neue-buerger

2https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/migrationshintergrund-i

3https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/service-und-organisationseinheiten/qualitaetsentwicklung-planung-und-koordination-des-oeffentlichen-gesundheitsdienstes/berichte-und-publikationen/#bd22

4https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/migrationshintergrund-i

5https://www.deutschlandfunkkultur.de/fitness-und-politik-schlanke-koerper-fuer-schlanke.990.de.html?dram:article_id=461878

6 https://de.statista.com/themen/33/krankheit-und-beruf/

7 https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html

8https://www.deutschlandfunkkultur.de/fitness-und-politik-schlanke-koerper-fuer-schlanke.990.de.html?dram:article_id=461878